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Die Krise hat erst begonnen

Von Nils Minkmar
Am Donnerstagabend war Nicolas Sarkozy an der Reihe, live aus dem Elyséepalast. Er beruhigte. Er drohte. Er versprach, „alle zu beschützen“. Er ratterte Zahlen herunter wie ein Manager und beschrieb Einzelschicksale wie ein Geistlicher. Einmal, er hatte gleichzeitig die Abschaffung der Gewerbesteuer und die Erhöhung der Zuschüsse für Minijobs versprochen, knurrte er einen skeptisch murmelnden Journalisten an: „Wollen Sie mir mitteilen, mein Beruf sei nicht einfach? Danke, das wusste ich schon.“ Doch Sarkozy hatte am Donnerstag ebenso wenig einen Plan wie am Mittwoch oder heute. Die Krise frisst sich mit nicht nachlassender Geschwindigkeit in die Fundamente der Gesellschaft, die Arbeitslosigkeit steigt, weitere Demos sind angekündigt. Sein historischer Auftritt hat sich längst versendet.
Seit Monaten sehen wir Angela Merkel oder Gordon Brown oder nun Barack Obama vor wechselnden Kulissen auf- und abtreten, ein Theater der Ratlosigkeit, in dem immer nur ein Motiv improvisiert wird: dass es bald schon weitergehen werde wie bisher. Bald sind die Banken gerettet, dann können sie wieder mit Quatschpapieren handeln. Bald ist das richtige Politikinstrument – irgendwo muss es doch liegen – gefunden, dann wird, Lieblingsvokabel des Politsprechs, die „Stellschraube“ angezogen, und wir setzen die Fahrt fort wie zuvor, bitte entschuldigen und verkennen Sie die Tatsache unseres anhaltenden Absturzes.

Gefahr kommender sozialer Krisen
Unsere Milliarden, die diversen Pakete, Schirme und Spritzen hätten die Krise längst beeindrucken müssen. Aber Pustekuchen. „Fast täglich“, schreibt Nobelpreisträger Paul Krugman über die dilettierenden Politiker, „kramen sie eine neue Fahne hervor, die sie den Mast emporziehen, um zu testen, ob jemand salutiert.“ Nichts passiert.
Politiker haben diese Krise nicht angezettelt und keinen Plan, sie zu stoppen. Alle anderen schauen zu, geduldig und nett, wie wir postmodernen Menschen heute sind. Es ist viel zu ruhig.
Es ist längst Zeit, das Staunen über die irrwitzige Geschichte von den mehrfach gebündelten Schrottpapieren und den kriminellen Systemen, die ihre Verbreitung zum Geschäft gemacht haben, diesen Dealern mit gepanschten Finanzspritzen, zu überwinden und das ganze Ausmaß der sich gerade voll entfaltenden Weltkrise ins Auge zu fassen. Das monatelange öffentliche Kümmern um die Banken hat wenig gebracht und führt dazu, die akute Gefahr kommender sozialer Krisen zu vernachlässigen. Wir haben bald ganz andere Probleme, abstrakt war letztes Jahr: In Island führten Proteste der chronisch friedlichen Bevölkerung, die langen schlechten Zeiten entgegensieht, zum Sturz der Regierung, der auch nur ,abwiegeln‘ und ,weiter so‘ einfiel.

Es gab kein Axiom und kein Naturgesetz
Die angesehene Zeitschrift „Foreign Policy“ hat nun die Liste der „nächsten Islands“ veröffentlicht, Staaten, bei denen sich totale Überschuldung, politisches und wirtschaftliches Missmanagement und ein kompletter Glaubwürdigkeitsverlust der Regierenden krisenhaft zuspitzen. Nicaragua ist dabei, alle anderen aber liegen in und bei Europa: Großbritannien, Griechenland, Lettland und die Ukraine. Deren wachsendes Elend wird nicht stumm bleiben. Abgesehen von Streiks, Demonstrationen, Unruhen und Plünderungen können wir rassistische Ausschreitungen gegen Migranten und Minderheiten, politische Instabilität, höhere Kriminalität und generell eine um sich greifende Gewaltbereitschaft und Radikalisierung erwarten. Diese Krise beschert uns zerfallende Gesellschaften in unserer Nachbarschaft: Wo noch die Republik war, herrscht bald die Mafia. Krise ist keine Frage von Blasen und Buchungen, da geht es um durchgeheulte Nächte. Anderswo, unter den chinesischen Wanderarbeitern und bei den Illegalen, die aus Afrika nach Europa wollen, wird die Krise Leben kosten.
Zwei Metaphern kursieren, wenn offiziell von der Krise gesprochen wird: Die vom Tsunami oder des „perfekten Sturms“, der über uns gekommen ist, und, häufiger, die vom Giftmüll, jener „toxischen Papiere“ in den „Kellern“. Der große Vorteil solcher Bilder ist ihr naturwissenschaftlicher Ursprung. Moral, Gewissen und vor allem das Strafrecht haben da nichts zu suchen. Im Mittelalter wurden Tiere vor Gericht gestellt und Krankheiten verboten, also wäre es in unseren Zeiten doch ein Witz, die Verursacher der Krise mit dem Staatsanwalt suchen zu gehen. Bloß: Diese Krise ist nicht natürlichen Ursprungs. Es gab kein Axiom und kein Naturgesetz, welches eine Bank gezwungen hätte, Papiere zu kaufen, die auf dem glücklichen Ausgang einer Wette auf den ewig steigenden Wert von Riesenhäusern basierte, die man tagträumenden Erdbeerpflückern und Putzfrauen angedreht hatte. Es gab bloß einen Wunsch nach Rendite, und die steigt nun mal mit dem Risiko. Lag der ganze Witz in diesen Systemen darin, die hohe Rendite vom Risiko zu trennen, in dem man es der Öffentlichkeit eines Nachts gebündelt auf die Straße kippt? Darf man fragen, ob diejenigen, die die Risiken eingingen, je die Absicht hatten, die Folgen eines negativen Ausgangs zu tragen? Ob sie alles unternommen haben, frühzeitig zu warnen und den Schaden zu begrenzen? Oder haben sie lange Jahre, in denen der Crash mit guten Argumenten in vielen Büchern prognostiziert stand, kassiert und weitergespielt mit der guten Gewissheit, ihr Institut, die ganze Branche sei „too big to fail“?

Mehr faul als nur ein Stapel Papiere
Nichts gegen hohe Gewinne, aber wenn das Risiko dieser Spielchen nicht von denen getragen wird, die den Gewinn kassieren, dann ist die Spielanordnung ein Fall für den Staatsanwalt.
Es ist derzeit völlig offen, ob die Textur der Gesellschaft diese Krise übersteht. Denn das Versagen der Banken war ja in der herrschenden Ideologie, die sich als Wissenschaft tarnte, gar nicht vorgesehen: Weniger Steuern und mehr Freiheiten für die Tüchtigen, dann geht es allen gut. Doch wir sehen: Nirgendwo gibt es so viele tüchtige und berühmte Millionäre wie in Kalifornien. Hollywood und Silicon Valley ziehen Talente aus der ganzen Welt an, und doch kann es sein, dass dieser reiche, dynamische Staat bald seine Lehrer nicht mehr bezahlen kann. Da ist mehr faul als nur ein Stapel Papiere. Wie lebt der Kalifornier, zu dessen Betriebssystem das große Versprechen auf ewige Verbesserung gehört, mit einer dauerhaft verbauten und überschuldeten Zukunft?
Die deutsche Gesellschaft hat auf die Krise erst mal recht liebevoll reagiert: Jemand ist süchtig geworden, hat alles Geld verbraucht und verlangt nun nach mehr. Also räumt man die Schränke aus, um ihm über die nächsten Tage zu helfen. So haben wir, obwohl der Haushalt fast ausgeglichen war, Schulden gemacht und Bürgschaften abgegeben, wie in den „Kindern vom Bahnhof Zoo“ die Freunde den Junkies Rotwein und Hustensaft gemixt haben – um die Schmerzen zu lindern.

Warum sollen wir eure Schulden zahlen?
Aber so kann es nicht weitergehen. Die Republik kann nicht länger koabhängig sein und muss auf die systemische Krise mit einem Systemwandel reagieren. Dem muss eine klare und öffentliche Analyse der Ursachen dieser Krise vorausgehen. In Washington wurden ja bereits parlamentarische Anhörungen vorgenommen, wenn Konzerne Steuergelder oder Garantien wollten. Es waren wichtige Anhörungen, auch für die Branchen selber: Die amerikanischen Autohersteller haben etwa erkannt, dass es besser kommt, wenn sie von Detroit nach Washington mit dem Auto fahren, als wenn jeder Boss seinen eigenen Firmenjet nimmt. Und die Öffentlichkeit, darunter ja auch die Beschäftigten der betroffenen Unternehmen, konnte sehen, wie die Verantwortlichen bei ganz normalen Fragen in Schwierigkeiten gerieten, etwa nach dem Verwendungszweck für die beantragten Gelder. Die Führungsebene hat das Vertrauen der Aktionäre und der Belegschaft missbraucht, das wurde da klar, aber einem Land von Erwachsenen kann man solche Erkenntnisse nicht ersparen. Angst vor dem Sozialismus rechtfertigt nicht das Vertuschen der Fehler der Kapitalisten. Auch nach den Attentaten vom 11. September 2001 hat der amerikanische Kongress einen Untersuchungsausschuss eingesetzt. Die dort vorgetragene öffentliche Entschuldigung des einstigen Terrorabwehrchefs Richard Clarke für das Versagen der für den Schutz der Bürger verantwortlichen Exekutive war eine wichtige Etappe der nationalen Traumaverarbeitung.
Es ist ein Skandal, dass der Bundestag zwar Gelder in Höhe der Wiedervereinigungskosten bereitstellt, aber nicht mal einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzt, um zu fragen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Und ob es im Privatvermögen der Verantwortlichen nicht noch Reserven gibt, die man zur Begleichung des entstandenen Schadens heranziehen könnte, etwa in Form einer Härtefallstiftung für kleine Betriebe oder ländliche Gemeinden? Die Bürger wollen wissen, was war. Schon bald wird an den Küchentischen der Nation das große Rechnen und Grübeln einsetzen, und bald darauf kommt man auch in Deutschland auf die Frage, die die italienischen Studenten längst stellen: Warum sollen wir eure Schulden zahlen?
Um die Gesellschaft vor Unruhen und kalten Bürgerkriegen zu bewahren, muss ein großer Dialog begonnen werden. Das alte System wird sich nicht fangen, für die Ramschpapiere gibt es keinen Markt, und es wird auch keinen mehr geben. Mit gouvernementalem Herumfuchteln in Klüngelrunden, um irgendwelche Stellschrauben zu befingern, ist nichts mehr zu gewinnen. In solch einer Lage kann es einen Fortschritt nur geben, wenn man sich von ideologisch begründeten Prinzipien verabschiedet und all das stärkt, was Gemeinsinn stiftet.

Geld verleiht keinen Sinn
Wäre es undenkbar, eine Bank untergehen zu lassen und mit den Rettungsmilliarden lieber ein neues Institut mit weniger krimineller Energie zu gründen?
Es ist unklar, welche politischen Kräfte das überstehen werden. Attac hat mit der jahrelangen Kampagne gegen die Zocker an den Finanzmärkten präziser gearbeitet als die im Bundestag vertretenen Parteien. Die müssen schon deutlich machen, dass man sie hinters Licht geführt hat, sonst gibt es keinen Grund mehr, diesen braven Begleitern eines wahnsinnigen Marktgeschehens zu folgen. Die Leute werden sonst dieselben Schlüsse ziehen, die schon die Bürger Argentiniens gezogen haben: „Ihr alle müsst gehen!“ war da der Slogan.
Symbolische Handlungen sind heute wichtiger, als Milliarden zu versprechen, die eh kein Mensch mehr hat. Die Wirksamkeit symbolischer Gesten auch auf den verfahrensten Politikfeldern belegt die Wissenschaft: Von 2004 bis 2008 haben die amerikanischen Anthropologen Scott Atran und Jeremy Ginges viertausend Akteure des Nahostkonflikts an einem Test teilhaben lassen: Sie sollten erklären, welche Handlung der Gegenseite, also der Palästinenser oder Israelis, sie als wichtigen Fortschritt anerkennen würden. Zu beurteilen hatten sie drei Möglichkeiten: Die Gegenseite bietet ihnen etwas mehr Land, oder sie erhalten, gegen eigene moderate Zugeständnisse, eine wirklich bedeutende internationale Finanzhilfe, oder aber die anderen entschuldigen sich: Die Palästinenser für die Terrorakte und die Israelis für die Vertreibung.
Schon die Nennung dieser dritten Möglichkeit soll selbst von den grimmigsten Gestalten auf beiden Seiten mit Erleichterung aufgenommen worden sein, in erdrückender Mehrheit wurde diese Option bevorzugt. Sich den Verzicht auf heilige Ansprüche bezahlen zu lassen, dieser Vorschlag rief oft Abscheu hervor. Geld verleiht keinen Sinn.

Dieser Bericht wurde nicht geprüft. Für Richtigkeit der Angaben übernimmt Silbernews.at keine Haftung.
Quelle: » http://www.faz.net