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Ausgesaugt und kahl gefressen

Fast alle Länder nutzen zur Bewältigung der Krise dasselbe Rezept: Auf Pump finanzieren sie Programme, die den Absturz auffangen sollen. Das kann auf Dauer nicht gutgehen. Die ersten Nationen stehen vor der Pleite. Eine Reise ins Imperium der Schulden.

VON STEFAN DEGES*

Francisco Erasso hat sich den Namen „Totengräber der Hochfinanz“ redlich verdient. Erst droht der spanische Finanzsekretär den Banken mit Enteignung. Dann erpresst er die Chefs der Geldhäuser, um an Kredite zu kommen. Und schließlich besticht er sogar einzelne Filialleiter. Das alles nur, damit der spanische Staat noch mehr Schulden machen kann.

Am Ende von Erassos Treiben steht die Pleite Spaniens und damit auch die Spaltung des habsburgischen Reichs. Es ist das Jahr 1557. Philipp II. hat kurz zuvor die Herrschaft von seinem Vater Karl V. übernommen. Nun muss er einräumen, dass sein Land den Forderungen der Banken nicht mehr nachkommen kann. Über das Reich, in dem die Sonne nie untergeht, war längst die Dämmerung hereingebrochen. Ein dekadenter Hofstaat und Kriege an mehreren Fronten haben das Kaiserreich ruiniert.
Seither hat es Hunderte Staatspleiten gegeben, und die Welt wird noch weitere erleben. Solide öffentliche Haushalte sind eine Ausnahme. Schon vor der Krise lebten viele Länder weit über ihre Verhältnisse. Nun müssen sie auch noch Banken retten und die Konjunktur stimulieren, obwohl die Staatskassen leer sind. Der Erfolg dieser Notmaßnahmen steht in den Sternen. Gewiss ist nur: Die Staatsfinanzen degenerieren. Denn Schulden sind wie Ungeziefer. Sie vermehren sich rasend, saugen Gesellschaften aus, fressen die Früchte einer Volkswirtschaft, hinterlassen Larven, die weitere Generation plagen werden.
Das Wunder von Washington
Der Hofstaat und die Kriege, die Ex-Präsident George W. Bush seinem Thronfolger Barack Obama vererbt hat, überfordern sogar modernste Technik: Die berühmte Schuldenuhr am New Yorker Times Square hat nicht mehr genug Nullen, um die Rekordverschuldung der größten Wirtschaftsmacht der Erde anzuzeigen. Der inzwischen verstorbene Immobilienunternehmer Seymour Durst brachte die Digitalanzeige 1989 vierzehnstellig an, um auf die gefährlich hohe Kreditaufnahme der USA aufmerksam zu machen. Damals steckte das Land mit 2,7 Billionen Dollar in den Miesen. Inzwischen hat sich der Fehlbetrag auf 10,6 Billionen Dollar vervierfacht. Die größte Volkswirtschaft der Welt ist zugleich ihr größter Schuldner. Auf jedem Amerikaner lastet allein aufgrund der Staatsdebets ein Schuldenberg, der größer ist als das durchschnittliche US-Jahresgehalt.
Die Zukunft verheißt keine Besserung. Auch wenn Obama nun angekündigt hat, die Neuverschuldung innerhalb von vier Jahren zu halbieren, erreicht die Gesamtverschuldung bald die Höhe des Bruttoinlandsproduktes von 14,6 Billionen Dollar. Auf jeden Nützling kommt dann ein Schädling. Dabei sind bereits zugesagte Pensionszahlungen und Gesundheitsleistungen nicht einmal berücksichtigt. Mit ihnen klafft in den USA eine Finanzierungslücke von 70 Billionen Dollar. Das entspricht dem Steuereinnahmen von etwa 20 Jahren. Ein Unternehmen hätte längst Insolvenz angemeldet.
Doch einer relativ kleinen Behörde in Washington verdankt die amerikanische Regierung das Wunder, überhaupt noch inmitten der Schuldenschwärme operieren zu können. Das Bureau of the Public Debt (BPD) sorgt dafür, dass US-Staatsanleihen, Schatzbriefe und Sparschuldverschreibungen einen Abnehmer finden. Stephen Meyerhardt nimmt beim ersten Klingeln den Hörer ab. Er ist für die Öffentlichkeitsarbeit des BPD zuständig und hält niemanden in der Warteschleife. Es könnte ja ein interessierter Gläubiger am anderen Ende der Leitung sein. „Wir verkaufen auf jeden Fall gerade viele Schulden“, bestätigt Meyerhardt.
Das BPD macht keine Werbung für die Schuldverschreibungen der US-Regierung. Die verzinslichen Wertpapiere werden durch Auktionen an den Mann gebracht, die das Finanzministerium festlegt. Im Schnitt gibt es deren 140 pro Jahr. Privatpersonen amerikanischer Nationalität können sich bequem per Mausklick im Internet eindecken. „Aber 99 Prozent der Nachfrage stammen von professionellen Investoren und Regierungen”, so Meyerhardt. Im Herbst 2008 war fast die Hälfte der amerikanischen Staatsanleihen in Besitz der Federal Reserve (Fed). Und auch in Zukunft will die Fed im großen Stil US-Staatsanleihen kaufen. Ziel sei es, die Geldmenge zu erhöhen, begründet der Chef der US-Notenbank, Ben Bernanke. Der Staat verschuldet sich also, indem die Fed Geld druckt und im Land verteilt – wie eine Kakerlake, die ihre Eier in alle Ritzen der Küche presst.
Unter Karl V. erhielten die Habsburger ihre Kredite von den Welsern und Fuggern. Als denen das Geschäft mit den Staatsschulden über den Kopf wuchs, sprangen italienische Banken ein – bis auch sie nicht mehr konnten. Amerika schichtet gerade ebenfalls um: Noch vor einigen Jahren stammten die Abnehmer der US-Schuldscheine fast immer aus den USA selbst. Neuerdings aber hilft China häufig aus. Vergangenen November hielt das Reich der Mitte 681,9 Milliarden Dollar an Schatzanleihen. „Noch nie hat ein Land, das so arm wie China ist, einem solch reichen Land, wie es die USA sind, so viel Geld geliehen“, sagt Brad Setser vom US-Council on Foreign Relations. China hat Japan als größter Auslandsgläubiger der USA überholt. Dennoch spricht beim BPD niemand Mandarin. „Die Regierungen kommen über eine Handvoll akkreditierte Broker zu uns, über die Großbank JP Morgan Chase zum Beispiel“, erklärt Meyerhardt. Banken kaufen Staatsanleihen, verkaufen sie an die Notenbank und können im Gegenzug mehr Kredite an die Privatwirtschaft vergeben.
Staatspapiere haben feste Zinssätze und werden von den Regierungen besichert. Was sie so attraktiv macht, ist der Glaube an die Unsinkbarkeit eines Landes. Im Zuge der Kreditkrise erleben die amerikanischen Schuldverschreibungen derzeit einen Boom. Ob der Ansturm anhält, ist jedoch fraglich. Denn im Moment bemüht sich fast die ganze Welt zeitgleich um neue Geldgeber.
Für Washington wäre das Ausbleiben der Gläubiger eine Katastrophe. Nach Einschätzungen des Congressional Budget Office wird das Haushaltsdefizit der USA noch dieses Jahr auf nie da gewesene 1,2 Billionen Dollar anschwellen. Zudem müssen weitere 249 Milliarden Dollar allein für die Zinszahlungen auf die bereits existierende Staatsschuld aufgebracht werden. Sobald Kakerlaken eine Küche befallen haben, lassen sie sich so schnell nicht mehr vertreiben.
Pekings Staatsgeheimnis
Es ist der chinesische Drache, der die amerikanische Küchenschabe am Leben hält. Doch gerade ließ in Peking der renommierte Ökonom Zhang Weiying auf einem Unternehmerforum „eine Bombe platzen“, wie die Regierungswebseite china.org.cn meldet. Zhang hält nicht viel davon, mit chinesischem Geld amerikanische Anleihen zu finanzieren. Er schlug stattdessen ein gigantisches Konjunkturprogramm vor: Der Staat solle 40 Prozent des Aktienkapitals seiner börsennotierten Staatsfirmen und die Hälfte seiner maßgeblich in US-Staatsanleihen geparkten Devisenreserven dem Volk zugute kommen lassen. Jeder der 1,3 Milliarden Chinesen würde etwa 10 000 Yuan (umgerechnet 1150 Euro) erhalten.
Der schärfste Widerspruch kam von Gao Xiqing, Leiter der von Pekings Staatsrat 2007 gegründeten China Investment Cooperation (CIC), die 200 Milliarden Dollar an Devisen erhielt, um sie weltweit gewinnbringend anzulegen. Zhang Weiyings Vorschlag, so die Einschätzung Gao Xiquings, schade China und den USA gleichermaßen. Würde China US-Anleihen auf den Markt werfen, hätte das verheerende Folgen für Märkte und Preise. Daher gelte, dass der Devisenschatz ein „Schutzwall zur Finanzsicherheit“ sei und nicht im Inland verwendet werden könne.
Fachleute taxieren Chinas Devisenvorräte auf 2,5 Billionen US-Dollar. Angeblich hat Peking über 70 Prozent seiner Devisenvorräte in amerikanischen Schatzanleihen, kurzfristigen US-Obligationen oder Anleihen von Freddie Mac und Fannie Mae angelegt. Die exakten Zahlen kennt nur eine kleine Gruppe von Beamten, die bestimmen, wie die Devisen genutzt und wie viel davon in den USA angelegt werden.
Dennoch wird die Debatte über die Verwendung der Devisenreserven hitzig geführt. Premier Wen Jiabao betont, dass es von der Wirtschaftspolitik der neuen US-Regierung abhinge, ob China weiteres Geld in US-Anleihen steckt. Peking müsse überzeugt sein, dass „sein Devisenschatz sicher und werterhaltend angelegt ist“. Zugleich machte der Premier klar, dass die Devisen nur im Ausland angelegt und nicht im Inland verwendet werden können. Er weiß, dass China einen guten Ruf als zuverlässiger Partner der USA zu verlieren hat. Die amerikanische Außenministerin Hillary Clinton hat bei ihrem jüngsten Besuch in Peking daran noch einmal erinnert. So kauft China weiter eifrig US-Staatsanleihen.
Italien dankt dem Euro
Italien hatte schon immer einen schlechten Ruf, zumindest in Sachen Staatsschulden. Eine unkontrollierte Ausgabenpolitik in den Achtzigerjahren, die „goldene“ Ära Bettino Craxis, führte in die Haushaltsnotlage. Die hohe Inflation einerseits und ein Zinsniveau von über zehn Prozent ließen die Lira vorübergehend aus dem Europäischen Währungssystem fliegen. Giulio Tremonti ficht das nicht an. Den Italienern stets den Schuldenberg vorzuhalten sei „buchhalterisch, übereifrig, rückwärtsgewandt“, urteilt der Finanz- und Wirtschaftsminister. Er erfand die „kreative Finanzpolitik“, um die Maastrichtkriterien der EU zu unterlaufen.
Nun verkündet Tremonti vor perplexen Parlamentariern: „Wir sind die Dritten in der Welt.“ Leider meint er damit die enorme Höhe des italienischen Schuldenbergs von 1670 Milliarden Euro – gut 110 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Schon 2006 stufte die Ratingagentur Standard & Poor’s die Kreditwürdigkeit Roms herab. Das ist so, als würde das Gesundheitsamt den Betrieb der italienischen Küche wegen Hygienemängeln nur noch bei Zahlung einer deftigen Strafe gestatten. Portugal, Griechenland und Spanien erlebten im Januar dasselbe Schicksal.
Ohne den Schutzschild Euro ginge es Italien noch schlechter. Tremonti hat deshalb schon mehrfach eine gemeinsame Anleihe aller Euroländer gefordert. Für Deutschland wäre das teuer, weil Finanzminister Peer Steinbrück einen kleinen Zinsaufschlag akzeptieren müsste: „Jährlich könnte dies die deutschen Steuerzahler 1,5 Milliarden Euro kosten“, schätzt der Wirtschaftsweise Peter Bofinger.
Solange die gemeinsame Anleihe auf sich warten lässt, heißt die Parole: sparen. So hat Tremonti eine neue Masche erfunden: die Kostenneutralität. Das bisherige Krisenpaket von angeblich 40 Milliarden Euro besteht hauptsächlich in Umwidmungen von Bilanzposten oder im Vorholen von Finanzierungen bis zum Jahr 2012. Denn wer in guten Zeit seinen Speck nicht sicher lagert, darf sich in schlechten Phasen nicht wundern, dass die Maden alles weggefressen haben. Im Moment verhandelt Tremonti mit Italiens Regionen, von denen er 2,9 Milliarden Euro für das italienische Krisenprogramm haben möchte. Das Geld stammt aber ursprünglich aus dem EU-Sozialfonds und ist eigentlich für die berufliche Bildung bestimmt. Tremonti möchte es für eine Ausweitung des Kurzarbeitergelds nutzen.
Die Krise hatte sich in Italien schon von Mitte 2008 an bemerkbar gemacht: Seit dem dritten Vierteljahr gibt es negative Wachstumsraten für die Wirtschaft. Das leistet den Maden Vorschub. Denn dem Land gehen die Insektizide aus. Das Steueraufkommen sank bereits 2008 um 5,6 Prozent.
Peer Steinbrück im Glück
Schildkröten sind zur Bekämpfung von Insekten völlig ungeeignet. Als im vergangenen Herbst der traditionell von Bulle und Bär beherrschte Platz vor der Frankfurter Börse tierischen Zulauf bekam und die Finanzagentur des Bundes ausgerechnet mit einer Schildkröte für Investments in Staatspapiere warb, gab es neben neugierigen Blicken vor allem hämische Kommentare. Die sprechende Schildkröte als erfahrener Anlageberater „Günther Schild“ rühmt sich ihrer mehr als 100-jährigen Erfahrung. „Vermutlich muss man mindestens ein solches Alter erreichen, bis man mit Renditen im Schildkrötentempo ein Vermögen aufbaut“, sagte damals der Werbeberater Kurt Moritz aus Mainz. „Aber schon John Maynard Keynes wusste: Langfristig sind wir alle tot.“

Inzwischen zählt Moritz selbst zu den „Schildkröten-Investoren“. Genervt von zwei schlimmen Börsencrashs binnen weniger Jahre, entschied er sich vor kurzem für Bundesschatzbriefe vom Typ A und Tagesanleihen des Bundes. Rauschende Renditen lassen sich damit nicht erwirtschaften. Die aktuelle Verzinsung der Tagesanleihe liegt bei 1,09 Prozent per annum. Bei einer Direktbank bekäme Kurt Moritz deutlich mehr. Auch der Bundesschatzbrief wirft im ersten Jahr nur eine Magerrendite von 1,5 Prozent ab – vor Steuern und Inflation, wohlgemerkt.
Doch dem Werbemanager geht es wie vielen Anlegern und Sparern: Die größtmögliche Sicherheit zählt in Zeiten der Krise mehr als die Rendite. Für den Staat hat dies den angenehmen Effekt, dass ihm die Bürger zu günstigen Konditionen ein überdimensioniertes Insektarium finanzieren. Bund, Länder und Gemeinden sitzen auf Schulden von annähernd 1600 Milliarden Euro. Sekunde für Sekunde kommen 2537 Euro hinzu. Mitunter wundert sich Kurt Moritz schon ein wenig über sein neues Anlageverhalten: „Würde ich denn einem Unternehmen Geld leihen, das allein in diesem Jahr wieder mehr als 50 Milliarden Euro neue Schulden machen muss?“

Gerade deutsche Staatsanleihen gelten als Fels in der Brandung. Und das nicht nur bei vorsichtigen Kleinsparern. Auch große Investoren aus dem In- und Ausland greifen bei der Frankfurter Finanzagentur zu, die früher einmal Bundesschuldenverwaltung hieß, was semantisch wohl korrekter war. Welche Investoren im Einzelnen dem Staat ihr Geld leihen, unterliegt zwar dem Bankgeheimnis, offenkundig sind aber nicht wenige Bank- und Versicherungskonzerne darunter, die nach soliden Möglichkeiten für ihre Eigenanlagen suchen, und auch vermögende Privatkunden wissen sichere Anlagen wohl zu schätzen.
Eigentlich betreibt der Staat ein ganz normales Bankgeschäft: Sparer vertrauen ihm ihr Geld an – und da das Risiko extrem gering ist, bleiben die Renditen bescheiden. Während aber eine Bank oder Sparkasse die an ihre Kunden zu zahlenden Zinsen durch die Erträge aus ihrem Einlagengeschäft decken muss, besorgt sich der Staat das Geld über Steuern. Die Gruppe der Investoren bekommt ihre Zinsen also aus einer Zwangsabgabe, die von der Allgemeinheit entrichtet wird. Kritiker sehen darin eine wenig beachtete Form der Umverteilung von unten nach oben. Die breite Masse finanziert die Rendite meist wohlhabender Sparer.
Auch der Privatwirtschaft kann die öffentliche Schuldenexpansion nicht egal sein. Allein Europa und die USA werden nach Schätzungen des Institute of International Finance (IIF) in diesem Jahr rund drei Billionen Euro über neue Staatsanleihen eintreiben wollen – etwa ein Drittel mehr als im Jahr 2008. Je mehr Geld die Staaten akquirieren, desto schwieriger wird es für Unternehmen, Anleihen zu platzieren. Wo der staatliche Heuschreckenschwarm einmal durchgezogen ist, braucht keine Biene mehr nach Blüten zu suchen.
Dem Bundesfinanzminister beschert die Renaissance der Bundeswertpapiere einen überzeugend preiswerten Geldsegen. Ende Januar beliefen sich die umlaufenden Kreditmarktmittel des Bundes auf über 977 Milliarden Euro. „Günther Schild“ bleibt gelassen. Bis in hundert Jahren kann es nur besser werden.
Brüssel trägt Dunkelrot
Das Gewimmel der Schulden-Schwärme ist in Brüssel am größten. An einem Resopaltisch mit Fichtenfurnier im europäischen Viertel laufen sie ein: die deutschen Haushaltszahlen, die Konjunkturberichte, die Milliardenschulden. Zwei Desk-Officer der Kommissionsabteilung mit der offiziellen Bezeichnung ECFIN.DDG.F.2 sichten, was die Bundesregierung an Angaben übermittelt. „Sie überwachen das Land“, erklärt Amelia Torres, Sprecherin des spanischen Währungskommissars Joaquín Almunia. Die ECFIN.DDG.F.2 ist sozusagen ein Flohzirkus. Hier werden regelmäßig die Milliarden gezählt, die den Mitgliedsstaaten fehlen zur soliden Haushaltsführung.
„Vor dem Beginn der jetzigen Krise hatten die EU-Staaten die öffentlichen Finanzen gut im Griff“, sagt Torres. 2007 konstatierten die Desk-Officer nur für zwei der 27 Staaten ein Defizit von mehr als drei Prozent. Vor dem Start des Stabilitäts- und Wachstumspaktes waren es zwölf. „Er hat sich bewährt“, heißt es im Währungskommissariat, und zugleich: „Die Dreiprozentmarke ist eine Obergrenze, null Prozent sollte das Ziel sein.“

In den nüchternen Büros rund um das Berlaymont, in dem die europäischen Kommissare ihren Sitz haben, regieren Zahlen. „Der Stabilitätspakt hat dazu geführt, dass sich die Mitgliedsstaaten angestrengt und sich eigene Regeln gegeben haben.“ Schweden etwa, das in den 1990er-Jahren durch eine tiefe Finanzkrise gegangen ist, steht heute – trotz Wirtschaftskrise – stabil da. Der Währungskommissar und seine Mitarbeiter wollen ungern als „Prüfer“, sondern als „unabhängige Helfer“ der 27 Finanzminister gesehen werden. Dennoch korrigieren die Brüsseler Währungshüter gern mal Aussagen der nationalen Regierungen, die die Lage angeblich „schönfärben“.
In Wahrheit schreiben die Regierungen zurzeit dunkelrote Zahlen. Frankreich wird 2009 neue Schulden in Höhe von mindestens fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts machen. In Spanien dürften es 6,2, in Lettland 6,3 Prozent werden. Irland, wo sich die Wirtschafts- mit der Bankenkrise zu einem gefährlichen Gemisch entwickelt hat, steuert gar auf elf Prozent zu. Die Kommission hat ein Verfahren gegen diese Länder eingeleitet. Auch Malta und Griechenland müssen mit Konsequenzen rechnen.
Sollte ein EU-Land vor dem Bankrott stehen, müsste Brüssel helfen. Die Europäische Verordnung 332 aus dem Jahr 2002 sieht einen Fördertopf vor, den die Staats- und Regierungschefs beim Dezember-Gipfel von zwölf auf 25 Milliarden Euro aufgestockt haben. Das ist so wenig, als würde man einer Kolonie Flöhe mit einer einzigen Pinzette zu Leibe rücken. Ungarn und Lettland erhielten aus dem Topf bereits Zahlungsbilanzhilfe. Doch die Kassenlage vor allem in osteuropäischen Ländern ist so miserabel, dass die polnische Regierung vorschlägt, alsbald einen Sondergipfel zum Staatsbankrott abzuhalten. Unterstützt wird Warschau von der österreichischen Regierung. „Wir können uns nicht leisten, zu warten, bis der Ernstfall eintritt“, sagt Finanzminister Josef Pröll. Kredite in Höhe von 230 Milliarden Euro haben österreichische Banken in Osteuropa vergeben. Das entspricht 80 Prozent der Wirtschaftskraft im Alpenland. Insgesamt stehen die Osteuropäer mit 1,7 Billionen Euro beim Ausland in der Kreide. Davon werden 400 Milliarden Euro noch 2009 fällig. Niemand weiß, wie das ohne westeuropäische Hilfe nur einigermaßen gelingen kann. Für österreichische Staatspapiere jedenfalls werden bereits immer höhere Risikoprämien fällig.
Griechisches Schuldenphlegma
In Athen sind die Menschen weniger optimistisch als die EU-Kommission. Droht Griechenland der Staatsbankrott?, fragen die Finanzmärkte – und wie skeptisch die Antworten ausfallen, ist auch hier an den Risikozuschlägen abzulesen, mit denen griechische Staatsanleihen gehandelt werden: Finanzminister Giannis Papathanassiou muss den Anlegern rund drei Prozent mehr Zinsen bieten als sein deutscher Kollege Peer Steinbrück. Dadurch verteuert sich die Refinanzierung fälliger Anleihen, der Schuldenberg wächst weiter, die Bonität leidet noch mehr. Die unerbittlichen Hygieneprüfer der Ratingagentur Standard & Poor’s verpassten Griechenland sogar die schlechteste Note aller Eurostaaten. Das sorgte für noch höhere Risikoaufschläge griechischer Staatsanleihen – ein Teufelskreis. Die Furcht, Griechenland stehe vor dem Staatsbankrott, scheint nur deshalb übertrieben, weil die Gemeinschaft der Eurozone vorher wohl rettend eingreifen würde. Zwar dürfen Schulden anderer Euroländer nicht beglichen werden. Aber Deutschland könnte zum Beispiel griechische Staatsanleihen aufkaufen. Motten nach Athen tragen! Rest-Europa verschuldet sich also weiter, um Griechenland vor der Überschuldung zu retten. „Die Gefahr, dass ein Land die Eurozone verlassen muss, ist gleich null“, sagt denn auch Währungskommissar Almunia. Es gebe zwar Risiken bei den Staatsanleihen. Trotzdem: „Der Euro ist nicht in Gefahr.“
Wie alles in Griechenland hat auch das Haushaltsdrama eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt im Herbst 1981. Damals wählten die Griechen mit dem Sozialisten Andreas Papandreou einen ausgesprochenen Insektenliebhaber zum Ministerpräsidenten. Er versprach den „großen Wandel“, und zwar mit der Wirtschaftstheorie des John Maynard Keynes. Der Wandel trat auch ein – aber anders, als es sich die Wähler erhofft hatten.
Finanzpolitisch war die Wahl des Populisten Papandreou eine Weichenstellung ins Desaster. Bei seinem Amtsantritt fand Papandreou eine Staatsverschuldung in Höhe von 22,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vor. Fünf Jahre später betrug die Schuldenquote bereits fast 50 Prozent, und als Papandreou 1996 sein Amt abgab, hatte sie 110 Prozent erreicht. Kurz darauf starb der Staatsmann, aber an seinem finanzpolitischen Erbe werden noch Generationen Griechen zu tragen haben. Die wichtigste Lehre aus jenen Jahren: Schulden vermehren sich rasend – doch sie zu (ver-)tilgen, das kann eine Ewigkeit dauern.
So traten 2004 die Konservativen mit dem Versprechen an, die Motten auszurotten und die zerrütteten Staatsfinanzen zu konsolidieren. Die Erfolge sind bescheiden. Zwar ging die Schuldenquote auf 94 Prozent zurück; das ist jedoch vor allem das Ergebnis eines Tricks: Seit Ende 2007 rechnet die Regierung Teile der Schattenwirtschaft ins offizielle Bruttoinlandsprodukt ein, das sich dadurch über Nacht um fast zehn Prozent erhöhte. Entsprechend gingen Defizit- und Schuldenquoten zurück. Doch eigentlich hatte Athen nur den Kleiderschrank erweitert, in den die Motten ihre Eier legen. Während der Finanzminister vor fünf Jahren noch mit 28 Milliarden Euro für den Schuldendienst auskam, benötigt er 2009 mindestens 45 Milliarden Euro.
Der Offenbarungseid mag den Griechen erspart bleiben, aber die konservative Regierung könnte über die Krise stolpern, wie das schon in Island und Lettland geschehen ist. Bei der Sonntagsfrage liegen die oppositionellen Sozialisten seit Wochen vorn. Der Oppositionsführer heißt Giorgos Papandreou, Sohn des früheren Premiers. Er will die griechische Wirtschaft aus der Krise führen – mit den Rezepten seines Vaters. Bei einem Besuch in Brüssel gab Papandreou junior kürzlich die Devise aus: „Keine Angst vor Keynes!“ Es lebe die Kleidermotte.
Rettet der IWF die Welt?
Im Herzen von Washington, wenige hundert Meter entfernt vom Weißen Haus, residiert der Internationale Währungsfonds (IWF), der armen Ländern über Jahrzehnte Tipps gegeben hatte, wie sie aus der Krise kommen könnten: Liberalisierung, Privatisierung, Steuersenkung! Dadurch versiegten oft die wenigen verfügbaren Einnahmequellen, während neue noch nicht erschlossen waren. Wenn also in der Vergangenheit der IWF ein Land verlassen hat, war die Krise zwar meist noch nicht beigelegt, aber das Ungeziefer hatte sich milliardenfach vermehrt. Folglich mieden hochverschuldete Staaten den IWF wie der normale Mensch ein Terrarium mit Vogelspinnen.
Im Jahr 2002 kam dem IWF die Idee, eine Insolvenzordnung für Staaten zu etablieren, was am Widerstand der USA scheiterte. Seither züchtet der Fonds weiter Insekten. Und jetzt, da individuelle Geldgeber wegen der globalen Wirtschaftskrise Mangelware sind, erfährt der IWF plötzlich wieder Zuneigung. Seit Oktober hat der Fonds Darlehen über 50 Milliarden Dollar an Ungarn, Weißrussland, Island, Lettland, Pakistan, Serbien und die Ukraine vergeben. „Die Berichte über den Tod waren stark übertrieben”, antwortet Simon Johnson mit Mark Twain auf die Frage nach dem Status seines ehemaligen Arbeitgebers. Bis vor einem Jahr war der Professor des Massachusetts Institute of Technology Chefvolkswirt des Währungsfonds.
Die Zahl der Länder mit akuter Haushaltsschieflage wächst fast täglich. Simon Johnson glaubt, dass letztlich 20 Staaten IWF-Kredite benötigen werden. Doch der Fonds verfügt nur über 250 Milliarden Dollar. Die werden nach Berechnungen Johnsons im Sommer aufgebraucht sein. „Um die längerfristige Nachfrage an Darlehen zu stillen, müssen mindestens 500 Milliarden her“, so der Professor. Die Regierungschefs der größten EU-Staaten schlossen sich jüngst dieser Forderung an.
Bei der Kreditvergabe kommt der IWF den Empfängerstaaten nun mit deutlich milderen Konditionen entgegen. Ungarn zum Beispiel bleiben rund ein Dutzend der üblichen Vorschriften erspart. Budapest musste nur versprechen, das Defizit ein bisschen zu reduzieren und die Sozialleistungen zu reformieren. Nicht alle Experten begrüßen den Kurswechsel. Laut Simon Johnson war es nicht zuletzt die strikte Kreditvergabe des IWF, die zu einer nachhaltigen wirtschaftlichen Erholung etwa in Thailand, Mexiko und Indonesien geführt hat. Investoren halten den Staatsfeudalismus für eine Giftspinne, deren Biss tödlich für den wirtschaftlichen Organismus sein kann: „Sosehr sie auch kritisiert wurden, die Investoren sahen in den IWF-Auflagen stets ein Zeichen, dass es wieder sicher war, in einem Land Geld anzulegen“, sagt Johnson.
Größenwahn unter den Geysiren
Jüngst musste der IWF in einem Land den Feuerlöscher spielen, das noch im Sommer vergangenen Jahres so gut wie schuldenfrei war. Dann kollabierten Islands größte Banken, und urplötzlich kann sich der Inselstaat in Sachen Pro-Kopf-Staatsverschuldung sogar mit Italien messen. Dass die Verbindlichkeiten so bedrohlich anschwellen konnten, liegt an der relativen Größe des Bankensektors. „Die Bilanzsumme der isländischen Banken ist in wenigen Jahren enorm gewachsen und war 2007 zehnmal so groß wie das Bruttoinlandsprodukt, noch im Jahr 2003 waren Gesamtwirtschaft und Bankensektor gleich groß gewesen“, sagt Gylfi Zoega, Wirtschaftsprofessor an der Universität Islands. In Irland ist das Missverhältnis identisch. Doch Irland gehört zur reichen Eurozone. Im kleinen Island stürzte nach dem Bankencrash die Krone ab. Die Währung, mit der der Staat für die Einlagen der Institute geradestehen sollte, ist nun wertlos, der nationale Konkurs unvermeidbar.
Banken, die zusammenbrechen, verhandeln mit ihren Gläubigern über Rückzahlungen. Nur das, was die Bank noch an Werten hat, können die Gläubiger bekommen, den Rest müssen sie als Kreditverlust abschreiben. Die isländischen Banken finanzierten sich vor allem in der Schlussphase stark durch Hochzinseinlagen von Privatpersonen und Institutionen in den Niederlanden, England und Deutschland. Die Einlagen waren durch keinen Sicherungsfonds komplett gedeckt. Eigentlich hätten die Sparer ihr Geld also abschreiben müssen. Doch bevor Kakerlaken sterben, verstreuen sie noch einmal ihre Eier: Auf internationalen Druck erklärte sich der Staat Island bereit, einen Teil der Sparer auszubezahlen. Das Land überschuldete sich demnach, um Banken zu retten, die auch deutschen Anlegern Geld schuldeten.
Sparen passt nicht in die Pampa
Was nun auf Island zukommt, hat Argentinien bereits hinter sich. Die Gauchos gehören zu der wachsenden Gruppe von Ländern, die bereits von Schädlingen aufgesucht und kahl gefressen wurden. Buenos Aires hat viele Schulden, so viele, dass sogar ein eigenes Museum eingerichtet wurde, das Museo de la Deuda Externa, Museum der Auslandsschulden. Besucher strömen in Massen durch die Ausstellungsräume, ganze Schulen organisieren Ausflüge.
Und gerade die Kleinen bleiben neugierig vor der Wand mit den schwarzen Löchern stehen: Da sind kleine Täfelchen an Gummibändern befestigt. Auf einem steht „Gesundheitsversorgung“ – losgelassen, verschwindet es im schwarzen Loch. Darin verschwinden auch „Bildungssystem“, „Infrastruktur“, „Zukunft der kommenden Generationen“.
Als Argentiniens Verschuldung im Januar 2002 auf 145 Milliarden Dollar angewachsen war, erklärte die Regierung das Land für zahlungsunfähig. Heute beläuft sich die gesamte argentinische Auslandsschuld wieder auf rund 145 Milliarden Dollar.
Zahlungsunfähig ist Argentinien nicht mehr. Für viele aber zahlungsunwillig. So macht in argentinischen Finanzkreisen ein Witz die Runde: „Alte Schulden zahlen wir nicht.“ „Und neue Schulden?“ „Die lassen wir alt werden.“ In den kommenden drei Jahren werden Schulden in Höhe von rund 38,4 Milliarden Dollar fällig. Noch immer kann die Regierung nicht vorrechnen, wie sie den Schuldendienst bewerkstelligen will.
Vor wenigen Wochen hatte sie verkündet, dass die Tilgung von zumindest 5,5 Milliarden Dollar der 2009 fällig werdenden 13,6 Milliarden nach Verhandlungen mit den Gläubigern bis ins Jahr 2014 verlängert wird. Allerdings mit einem Zinssatz von satten 15,5 Prozent im ersten Jahr – dreimal mehr als in Griechenland, und 2010 wird es noch teuer.
Allerdings hat die Regierung auch ein paar echte Erfolge vorzuweisen. Anfang 2005 hatte der damalige Staatspräsident Néstor Kirchner privaten Gläubigern ein Umschuldungsangebot gemacht. Die Anleger sollten einen Verlust von rund 75 Prozent ihrer Forderungen hinnehmen. Dabei ging es um eine Schuldensumme von 100 Milliarden Dollar. Drei Viertel der Gläubiger akzeptierten das Angebot. Dazu noch die vorzeitige Rückzahlung der Schulden in Höhe von 9,8 Milliarden Dollar an den IWF Ende 2005.
Zudem sind die Devisenreserven der Zentralbank im Zuge des Wirtschaftswachstums in den letzten Jahren wieder gestiegen. Kaum meldeten die Zentralbanker 47 Milliarden Dollar an Reserven, versprach Präsidentin Cristina Kirchner auch die Rückzahlung der 6,7 Milliarden Dollar Schulden beim Pariser Club, einem suprastaatlichen Schuldenberater für bankrotte Staaten. Aber das Versprechen ist bereits mit Unsicherheiten behaftet; die Verhandlungen mit den Gläubigerländern kommen nicht voran.
Kammerjäger de Paris
Zum „Club de Paris“? Der Taxifahrer schüttelt hilflos den Kopf. Er kennt den Fußballklub Paris Saint-Germain, weiß, wo der Automobilklub zu Hause ist, wo die Pariser Bridge-Fans sich treffen. Von einer internationalen Spezialeinheit zum Eintreiben von Schulden aus den Schwellen- und Entwicklungsländern hat er noch nie gehört. Das ist kein Wunder, denn es handelt sich um einen sehr exklusiven Verein, in dem nicht irgendwer Mitglied werden kann. In dieser informellen Gruppe haben sich 1956 die Regierungen der wohlhabendsten Nationen gefunden, die es leid waren, als Gläubiger jeder für sich mit den armen Schluckern der Schuldnerstaaten über Umschuldung oder Schuldenerlass zu verhandeln.
Die Adresse des diskreten Clubs, der nicht einmal im Telefonbuch steht, ist das Finanzministerium in der französischen Hauptstadt – ein gigantisches Hightech-Gebäude am rechten Seine-Ufer, in dem diese informelle Gruppe der Gläubigerstaaten bloß ein Untermieter ohne festen Wohnsitz ist. Als Clubvorsitzender fungiert seit der Gründung ein Spitzenbeamter des französischen Finanzministeriums, zurzeit heißt er Xavier Musca, er ist Generaldirektor der französischen Finanzverwaltung. Er hat einen Kopräsidenten, den Chef für multilaterale Angelegenheiten und Entwicklung, Benoît Cœuré, und einen Vize, Julien Rencki. Einer dieser drei leitet jeweils die Sitzungen mit den Delegationen der Mitgliedsländer, die zehn- bis zwölfmal pro Jahr zu einer „Tour d’Horizon“ über die Insektenplagen in angeschlagenen Volkswirtschaften zusammenkommen.
Seit 1983 wurden so für 85 verschuldete Länder mehr als 400 Vereinbarungen im Wert von mehr als 500 Milliarden US-Dollar getroffen. Der Club ist so etwas wie die Kammerjägerinnung der Dritten Welt. Die 19 reichen Mitgliedsstaaten koordinieren sich, unterzeichnen dann aber nach per Konsens ausgehandelten Regeln die Umschuldungsabkommen direkt mit dem Schuldner.

Die letzte Einigung betraf Ende Januar 2009 den afrikanischen Staat Togo, dem im Juni 2008 bereits 347 Millionen Dollar und nun weitere 22 Millionen erlassen wurden. Außer Deutschland beteiligten sich 13 andere Mitglieder des Pariser Clubs. Togo steht auf der IWF-Liste der 49 ärmsten Schuldnerstaaten (HIPC-Staaten), denen im Falle „guter Regierungsführung“ die Begleichung ihrer öffentlichen Schulden und Zinsen teilweise oder sogar vollständig erlassen werden kann, wenn sie ernsthafte Anstrengungen unternehmen, um die Armut zu bekämpfen und aus der finanziellen Abhängigkeit herauszukommen.
Die Hygieneempfehlungen des Kammerjägers werden gelegentlich als „neokolonialistische Bevormundung“ kritisiert. Dass sie diese Kriterien erfüllen, die ihnen via IWF und Weltbank von den Gläubigern diktiert werden, ist aber letztlich auch im Interesse der Schuldner. Denn auf die Insektenplage folgen meist die „Geier“, also professionelle Fonds, die die ausstehenden Schulden wohlfeil erstehen, um sie mit wenig Skrupeln, aber viel Gewinn einzutreiben. Dann doch lieber verhandeln mit dem Pariser Club.
Kenianisch korrekt korrumpiert
Dreimal ist die Regierung Kenias bereits beim Pariser Club vorstellig geworden: 1994, 2000 und 2004. Der nächste Termin wird auch nicht lange auf sich warten lassen. Das ist das Schicksal fast aller Länder, die jemals von den Armeen der Krabbeltierchen besiegt worden sind. Wer einmal Bankrott geht, klopft immer wieder an in Paris. Da hilft auch keine ausgefeilte politische Inszenierung daheim.
Wenn Kenias Finanzminister den neuen Haushalt vorstellt, folgt er einem festen Ritual. Zwischen Ministerium und Parlament werden alle Straßen gesperrt, damit der Minister sich mit einem braunen Koffer ins Parlament begeben kann. Im Koffer, den der Minister erst Minuten vor seiner Rede feierlich öffnet, befindet sich der streng geheim gehaltene Haushaltsplan, der von der Kanzel aus Volk und Abgeordneten verkündet wird.
So machte es Finanzminister Amos Kimunya auch bei der letzten Präsentation. „Dies ist bei weitem der schwerste Haushalt, den ich in meiner Amtszeit aufstellen musste“, erklärte ein müder Minister. Kenia hatte da gerade die monatelange Gewalt überwunden, die nach den Wahlen Ende 2007 ausgebrochen war und die zuletzt um sieben Prozent wachsende Wirtschaft abrupt gestoppt hatte. Kimunya reagierte – mit einem Rekordhaushalt von 7,6 Milliarden Euro. Und er versprach, Brot, Mehl und Milch von der Mehrwertsteuer zu befreien. Er stellte Geld bereit für Fußballturniere, damit die Jugendlichen von der Straße kommen.
Ein Drittel des Budgets jedoch fließt in den Staatshaushalt. 210 Parlamentarier mit einem Monatsgehalt von je 10 000 Euro, 40 Ministerien mit 100 Ministern und Vizeministern fressen mehr Geld auf als Straßenbau und Gesundheitsvorsorge zusammen. Aufgrund eines alten britischen Kolonialgesetzes werden die meisten Ministeriumstitel zudem nie im Parlament diskutiert. Die größten Korruptionsskandale ereigneten sich daher im Zusammenhang mit dem Staatshaushalt.
Das Budgetdefizit lag schon zum Zeitpunkt der Präsentation bei 1,27 Milliarden Euro. Der Rest sollte durch eine wilde Mischung aus Staatsanleihen im In- und Ausland finanziert werden und aus Steuereinnahmen, die trotz Krise um 14 Prozent wachsen sollten – obwohl nicht einmal jeder zehnte Kenianer ein festes (und damit steuerpflichtiges) Arbeitsverhältnis hat. Dann kam die Wirtschaftskrise, das Steueraufkommen brach monatlich weiter ein und die Staatsanleihen wurden nie ausgeschrieben. Es hätte sich ohnehin im Ausland kein Investor gefunden, der einem Mitglied des Pariser Clubs Geld gegeben hätte. Der Haushalt ist nun Makulatur, der Staat steht vor der Pleite.
Dabei gibt es Geld, nach wie vor. Etwa die Millionen, die Minister und Abgeordnete dadurch erwirtschaftet haben, dass sie Mais aus Staatsreserven zu Wucherpreisen verkaufen. Das Grundnahrungsmittel Maismehl wurde unbezahlbar, jeder vierte Kenianer hungert derzeit Regierungsangaben zufolge. Die Gewinne des Deals wurden von der reichen Elite nach Hause getragen. Ähnliche Affären gibt es bei Benzin, dem Verkauf eines staatlichen Hotels oder dem Druck neuer Pässe: Ein paar Politiker verdienen prächtig, während die offiziell verkündete Haushaltspolitik ignoriert wird. Xavier Musca, den Generaldirektor des Pariser Clubs, würde es nicht überraschen, wenn er bald wieder einen Anruf aus Nairobi erhielte. Kimunya wird dann aber nicht am anderen Ende der Leitung sein. Als der Minister vorschlug, die Bezüge der Abgeordneten zu besteuern, um das Defizit zu reduzieren, wurde er gefeuert.
Von den Dänen lernen
Wenn die Insekten die Macht übernehmen, dauert es nicht lange, bis die Landschaft kahl gefressen ist. In Dänemark hat man sich daher entschlossen, das Ungeziefer professionell auszurotten: Das Land gibt nicht mehr Geld aus, als es im Jahr einnimmt. Zumindest im Normalfall.
Jeppe Norsker verdient richtig gut. Der 34-jährige Däne wohnt in Kopenhagen und hat sich in der IT-Branche selbstständig gemacht, als Internet-Designer und Onlinespiele-Entwickler. Sein Einkommen ist so groß, dass er den maximalen Steuersatz zahlt und in der Spitze von jedem verdienten Euro 59 Cent an den Staat abgeben muss. Damit ist er nicht allein: In Dänemark zahlt fast jeder zweite Vollzeitbeschäftigte diesen „Topskat“ genannten Satz. In dem kleinen Land greift die „Reichensteuer“ bereits bei Monatseinkommen ab 3700 Euro.
In Deutschland beginnt sie erst in viel höheren Sphären und liegt zudem unter 50 Prozent. „Ich bin mit den hohen Steuern zufrieden, wir haben ja einen Wohlfahrtsstaat“, sagt Norsker. Weil er und viele andere Dänen nicht rebellieren, sondern bereit sind, hohe Steuern zu zahlen, hat der dänische Staat solide Finanzen. Die Haushaltsüberschüsse stiegen seit 1997 stetig und waren so hoch wie in kaum einem anderen europäischen Land. 2007 lag das Plus bei 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das Geld wird seit Jahren zum Abbau der Staatsverschuldung verwendet. Diese ist mittlerweile auf 26 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gesunken.
Nun rutscht selbst Dänemark wegen der Wirtschaftskrise ins Minus und muss Schulden aufnehmen, um die Banken zu retten. Wegen seiner Sparpolitik treiben solche Aktionen den Staat aber nicht an den Rand des Ruins. „Die frühere Entscheidung der Regierung, die Steuern nicht zu senken, sondern zu sparen, war absolut richtig. Jeder hatte doch einen Job, den Leuten ging es gut“, sagt Norsker. Wie er denken viele Dänen: Solange der Staat die hohen Steuereinnahmen in wohlfahrtsstaatliche Leistungen und den Schuldenabbau investiert, sind hohe Steuersätze zumindest akzeptabel.
Im letzten Wahlkampf musste der amtierende Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen sogar versprechen, dass Steuersenkungen so gut wie ausgeschlossen sind. Weil Rasmussen sich an die goldene Regel hielt, wählten ihn die Dänen Ende 2007 für vier weitere Jahre. Dass das Land im EU-Vergleich nicht nur Spitzenreiter bei der Einkommenssteuer ist, sondern auch in Sachen Mehrwertsteuer (25 Prozent) und Sondersteuern auf Autos (180 Prozent), störte die Wähler wenig.
Schließlich wird der Großteil der sprudelnden Einnahmen für eines der umfassendsten Wohlfahrtssysteme der Welt verwendet. „Die Leute zahlen ja nicht umsonst so viel Geld in die Steuersysteme ein. Sie bekommen dafür eine exzellente Krankenversicherung, hohe Ansprüche bei Arbeitslosigkeit und Betreuung und freie Bildung für ihre Kinder“, sagt Jonas Schytz Juul, Steuerexperte des gewerkschaftlichen Wirtschaftsforschungsinstituts AE Radet. Staatliche Leistungen, so Schytz Juul, seien es den Dänen wert, hohe Steuern zu akzeptieren.
Gut möglich, dass sich diese Einstellung trotz schrumpfender Wirtschaft und steigender Arbeitslosigkeit nicht so schnell ändern wird. Zwar könnten die Dänen jetzt mehr Geld besonders gut gebrauchen, andererseits hilft auch ein starker Staat in diesen Zeiten: mit Sozialhilfe, Bankenrettungspaketen oder als Kapitalgeber für strauchelnde Unternehmen wie die Fluglinie SAS. Das mag ordnungspolitisch umstritten sein, gibt aber der Bevölkerung ein Sicherheitsgefühl. Und das ist in diesen Zeiten, da es im Rest der Welt surrt, summt, juckt, kreucht und fleucht, schon eine Menge wert.

* Mitarbeit: Rudolf Balmer (Paris), Clemens Bomsdorf (Kopenhagen), Michael Brückner (Frankfurt), Detlef Drewes (Brüssel), Gerd Höhler (Athen), Marc Engelhardt (Nairobi), Johnny Erling (Peking), Ruth Pfriem (Rom), Beatrice Uerlings (New York), Jürgen Vogt (Buenos Aires), Sebastian Winter (Kopenhagen) © Rheinischer Merkur Nr. 9, 26.02.2009

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