Urlaub aufgrund von Inflation gestrichen
Die Preise steigen immer schneller. Weltweit ist die Inflation auf dem Vormarsch und bedroht das Wachstum. Bekommen wir wieder eine Stagflation – wie in den Siebzigerjahren?
Kennen Sie das? Sie hören die neue Inflationsrate in den Nachrichten und denken: Irgendwas stimmt da nicht. Eigentlich müssten die Preissteigerungen ungeahnte Höhen erreichen, das sagt uns jedenfalls unsere tägliche Erfahrung: an der Zapfsäule, im Supermarkt oder beim Blick auf die Stromrechnung. Doch der amtlichen Inflationsrate merkt man das kaum an. Im Mai lagen die Preise in Deutschland drei Prozent höher als vor einem Jahr, errechnete das Statistische Bundesamt. Sicher, das ist viel. Aber nach unserer Erfahrung im Alltag müsste die Rate doch wesentlich höher sein.
Unser Gefühl trügt nicht. Neue Zahlen des Statistik-Experten Hans Wolfgang Brachinger von der Universität Fribourg belegen das. Exklusiv für die WirtschaftWoche aktualisierte der renommierte Wissenschaftler seinen „Index der wahrgenommenen Inflation“ (IWI), der die Lebenswirklichkeit der Menschen weitaus besser abbildet als die offizielle Statistik (siehe Kasten Seite 29). Danach ist die im Alltag erlebte Inflationsrate seit Mitte vergangenen Jahres dramatisch in die Höhe geschossen – von rund fünf auf 12,8 Prozent im März und 11,6 Prozent im April. Der IWI, der die Güter nach ihrer Kaufhäufigkeit gewichtet statt nach ihrem Anteil an den Gesamtausgaben, liegt damit sogar noch höher als unmittelbar nach der Euro-Einführung, als der Teuro-Frust den Verbrauchern gewaltig auf den Magen schlug.
Die erlebte Rekord-Inflation hat weit- reichende Konsequenzen: Weil für die Konsumfreude der Menschen nicht die amtliche Inflationsrate, sondern das von Brachinger gemessene subjektive Inflationsempfinden ausschlaggebend ist, könnte der private Verbrauch in diesem Jahr noch schwächer ausfallen als bislang erwartet. Das würde die letzte Hoffnung für die Konjunktur platzen lassen. Denn der Export schwächt sich wegen der Finanzkrise, des Abschwungs in Amerika und des starken Euro zunehmend ab.
Eine Beispielrechnung der WirtschaftsWoche belegt: die Inflation zieht den Familien so viel Geld aus der Tasche, dass es am Monatsende immer enger wird (siehe Seite 26). Annika Schwarz* kennt das. Die 36-jährige Psychologin aus Karlsruhe würde gerne mal wieder mit ihrer Familie wegfahren. Aber wie? Immer mehr Geld bleibt im Supermarkt liegen, geht für Heizung und Strom drauf – und vor allem fürs Auto: Seit einem Jahr arbeitet ihr Mann, ebenfalls Psychologe, in einer Düsseldorfer Klinik. „Zum Glück haben wir einen Diesel“, sagten sie damals. Aber seitdem ist gerade der Diesel-Preis kräftig gestiegen. Die Fahrtkosten schlagen immer stärker ins Kontor. „Urlaub haben wir erst mal komplett von der Liste gestrichen“, sagt Annika Schwarz.
Die Explosion des Ölpreises hat auch den Sprit drastisch teurer werden lassen
So geht es zurzeit vielen in Deutschland. „Wir können uns Autofahren nicht mehr leisten“, lässt die „Bild“-Zeitung Volkes Stimme beben und präsentiert fünf Menschen, die ihr Auto verkaufen, Fahrgemeinschaften gründen oder auf Bahn, Roller oder Fahrrad umsteigen. Kein Wunder: Die Explosion des Ölpreises hat auch den Sprit drastisch teurer werden lassen – wer heute seinen Tank füllt, lässt locker 80 oder 100 Euro liegen. Aber es geht nicht nur um Öl und Benzin. Längst hat sich der Teuer-Trend auf breiter Front etabliert, weil die Weltmarktpreise für fast alle Rohstoffe munter weiter steigen und die Unternehmen zumindest einen Teil der Kostenlawine auf die Verbraucher überwälzen.
Hinzu kommt eine weitere Beschleunigung der weltweiten Preisspirale. Die Rohstoffpreise kennen, von wenigen kurzen Entspannungsphasen abgesehen, seit Jahren nur eine Richtung: nach oben (siehe Grafik Seite 28). Ein Ende ist nicht in Sicht – und das trotz der Abkühlung der Weltwirtschaft. Auf einigen Märkten hat sich die Preisexplosion sogar kräftig beschleunigt. Beispiel Stahl: Allein im April ist der Preis für Betonstahl, wichtig für die Bauwirtschaft, um 35 Prozent gestiegen, seit Dezember hat er sich verdoppelt.
Risiko Nummer eins ist aber nach wie vor der Ölpreis. Zurzeit notiert das Fass Rohöl in London um die 130 Dollar – mehr als 80 Prozent höher als vor einem Jahr. Dabei hat der Wertverfall des Dollar den Ölpreisschock für europäische Verbraucher ein Stück weit abgemildert: In Euro gerechnet kostet das Fass Rohöl aktuell rund 60 Prozent mehr als im Mai 2007. Doch selbst dieser Effekt droht auszulaufen, glaubt Jan Amrit Poser, Chefvolkswirt des Bankhauses Sarasin: „Der Zusammenlauf von steigenden Ölpreisen und fallendem Dollar muss an seine Grenzen stoßen, wenn der Dollar ein Niveau erreicht, das sich fundamental nicht mehr rechtfertigen lässt.“
Schon warnen Experten davor, die globale Inflationswelle könnte außer Kontrolle geraten. In Euroland liegt die offizielle Preissteigerungsrate seit Anfang des Jahres jenseits der Drei-Prozent-Marke, in Amerika sind es schon rund vier Prozent, ganz zu schweigen von vielen Schwellenländern. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF), ansonsten eher zurückhaltend im Benennen von Risiken, schlug kürzlich Alarm. „Nach langer Abwesenheit ist die Gefahr der Inflation als globale Herausforderung wieder aufgetaucht“, sagte IWF-Vizedirektor John Lipsky bei einem Vortrag in New York. Thorsten Polleit, Deutschland-Chefvolkswirt der Investmentbank Barclays Capital, wird deutlicher: „Die westlichen Volkswirtschaften stehen vermutlich vor dem größten Inflationsschub seit Anfang der Siebziger- und Achtzigerjahre.“
Da gleichzeitig auch das weltweite Wachstum spürbar nachlässt, macht auf einmal ein Begriff die Runde, den man längst in den Archiven der Wirtschaftsgeschichte vergessen glaubte: Stagflation, also die Kombination aus schwachem Wachstum und kräftig steigenden Preisen. Ein solches Szenario wird immer wahrscheinlicher. „In Amerika ist die Stagflation schon Wirklichkeit“, sagt Joachim Fels, Chefvolkswirt bei Morgan Stanley in London, „und in Europa wird sie wahrscheinlich bald ankommen.“
Auch in Deutschland. Zwar ist die Wirtschaft hierzulande im ersten Quartal mit 1,5 Prozent zum Vorquartal so stark gewachsen wie seit zwölf Jahren nicht mehr. Aber dafür war eine ganze Reihe von Sonderfaktoren verantwortlich (siehe Konjunktur Seite 59). In den kommenden Monaten dürfte die Wirtschaft dagegen kaum mehr wachsen – oder sogar schrumpfen, befürchten Experten. Denn die Weltwirtschaft ist gerade dabei, gleich ein paar Gänge auf einmal herunterzuschalten:Die Vereinten Nationen haben kürzlich ihre globale Wachstumsprognose für 2008 von 3,4 auf nur noch 1,8 Prozent korrigiert. Amerika, als globale Konjunkturlokomotive noch immer unersetzlich, befindet sich als Folge der Finanz- und Immobilienkrise am Rande einer Rezession. Banken in der ganzen Welt, vor allem in Europa, kämpfen mit den Folgen der Finanzkrise – und schränken die Kreditvergabe ein.
Damit ist klar: Der Export, seit Jahren Motor des deutschen Wachstums, dürfte bald ins Stottern geraten. Der Bundesverband des Deutschen Groß- und Außenhandels (BGA) rechnet für 2008 nur noch mit einem Exportplus von fünf Prozent – in den vergangenen vier Jahren waren es im Schnitt fast zehn Prozent. Sollte der Euro weiter steigen, sei auch diese Prognose Makulatur, warnt BGA-Chef Anton Börner.
Hoffnungen auf dem Konsum. Aber die Verbraucher machen bisher kaum Anstalten, mal nicht nur zum Kaffee trinken in die Einkaufszentren zu strömen. Im vergangenen Jahr war der private Konsum, dem Aufschwung am Arbeitsmarkt zum Trotz, mit einem Minus von 0,4 Prozent die größte Wachstumsbremse. In diesem Jahr reichte es im ersten Quartal nur zu einem mageren Plus von 0,3 Prozent – und so lange die Inflation den Menschen die Kaufkraft aus der Tasche zieht, wird sich daran nichts ändern. Das zeigt auch der Konsumklimaindex der GfK, der im Juni um 0,7 Zähler auf 4,9 Punkte zurückging.
Auch für eine Preisberuhigung am Ölmarkt spricht nicht viel. Im Gegenteil: Trotz steigender Preise wächst die globale Nachfrage. Das Angebot stagniert. Kürzlich bat US-Präsident George W. Bush den potentesten aller Öl-Verkäufer, Saudi-Arabien, es möge doch ein bisschen mehr Öl aus der Erde pumpen als bisher. König Abdullahs Antwort war ein höfliches Nein.
Doch die These der Saudis, auf der Welt gebe es genug Öl, stimmt nicht. Das angesehene Londoner Centre for Global Energy Studies (CGES) hat darauf hingewiesen, dass die Opec den Weltmarkt systematisch falsch beurteilt: Nach CGES-Berechnungen wird die Erdölproduktion aller Län- » der außerhalb der Opec in diesem Jahr um 0,6 Millionen Barrel pro Tag steigen – die Opec rechnet dagegen mit 0,9 Millionen.
Wegen dieser strukturellen Knappheit sieht Goldman-Sachs-Experte Arjun Murti den Ölpreis schon auf „150 bis 200 Dollar“ steigen. In den kommenden 6 bis 24 Monaten erscheint ihm dies „immer wahrscheinlicher“. Vor zwei Jahren sagte Murti einen Preis von mehr als 100 Dollar voraus. Vielen kam dies damals unseriös und komisch vor. Jetzt lacht keiner mehr. Stattdessen rechnen sie die Folgen solcher Szenarien durch: ein Ölpreisanstieg auf 160 Dollar, schätzt Alexander Koch von UniCredit, würde die offizielle Inflationsrate in Deutschland auf vier Prozent hochschnellen lassen – und auch Brachingers erlebte Inflation könnte weiter steigen.
Die Gretchenfrage ist jetzt, wie lange sich der Rohstoffboom noch fortsetzt. Inflations-Beschwichtiger wie der Chef der US-Notenbank, Ben Bernanke, hoffen, dass es nur das globale Wachstum war, das die Rohstoffpreise in die Höhe getrieben hat. Folglich müsse der Ölpreis mit abflauender Konjunktur wieder sinken. So könnte der preisdämpfende Effekt der Globalisierung wieder die Oberhand gewinnen: Die Schwellenländer mit ihrem Heer an Arbeitskräften produzieren billig für den Export und halten so den Preisauftrieb in den Industrieländern in Schach.
Doch diese Theorie hat einen Haken: Denn inzwischen schlagen die hohen Rohstoffpreise auch auf die Schwellenländer durch – gerade auch auf China, weil die Landeswährung Yuan durch ihre faktische Dollar-Bindung stark unterbewertet ist. So kletterte die Inflationsrate auf fast acht Prozent. So hoch war sie zuletzt vor zwölf Jahren. In Indien stiegen die Preise zuletzt um mehr als sieben Prozent, in Vietnam um 25 Prozent. Die Schwellenländer, sagt Fels von Morgan Stanley, „sind zu einer Quelle globalen Inflationsdrucks geworden“.
Es ist zu viel Geld im Umlauf
Der eigentliche Grund für die Rückkehr der globalen Inflation ist aber ein anderer: Es ist zu viel Geld im Umlauf, weil die Notenbanken, allen voran die amerikanische Fed, aus Angst vor den Auswirkungen der Finanzkrise die Leitzinsen kräftig gesenkt haben (siehe Grafik Seite 30). Selbst in Euroland, wo die Europäische Zentralbank (EZB) sich bislang beharrlich weigert, die Zinsen zu senken, wächst die Geldmenge viel stärker als das Güterangebot. Weltweit, so rechnet Fels vor, liegt der durchschnittliche Leitzins derzeit bei 4,3 Prozent, während die globale Inflationsrate mehr als fünf Prozent beträgt – der Realzins ist also negativ. „Das zeigt, wie lax die globale Geldpolitik derzeit ist“, so Fels.
Wenn aber immer mehr Geld hinter einer deutlich langsamer wachsenden Gütermenge herjagt, muss das unvermeidlich steigende Preise zur Folge haben. Viel erinnert jetzt wieder an das Mantra des amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträgers Milton Friedman: „Inflation ist immer und überall ein monetäres Phänomen.“
Das treibt auch die EZB-Strategen um. Bisher bleiben sie hart. So nannte Bundesbankchef und EZB-Ratsmitglied Axel Weber kürzlich die Inflationsraten in Euroland „besorgniserregend“ – und sprach davon, entgegen des weltweiten Trends notfalls
die Zinsen zu erhöhen. Hinter der Falken-Fassade steckt die Sorge, dass sich die Inflation leicht verselbstständigen kann, wenn sich die Arbeitnehmer in den Lohnverhandlungen das zurückholen, was sie durch die Inflation real verloren haben. Die höheren Löhne werden dann von den Unter- » nehmen wieder über die Preise an die Verbraucher weitergereicht: die gefürchtete Lohn-Preis-Spirale kommt in Gang.
Erste Anzeichen dafür sind unübersehbar. In Deutschland klettern die Löhne so schnell wie seit Jahren nicht mehr (siehe Grafik Seite 27). Und: „Wir haben die Hoffnung, dass wir in Zukunft zu deutlich besseren Tarifabschlüssen kommen“, frohlockt Reinhard Bispinck, Tarifexperte der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Richtig spannend wird es im Herbst. Dann beginnen die Tarifverhandlungen für die rund 3,5 Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie, unserer wichtigsten Industriebranche. Das könnte für die Unternehmen teuer werden. Der neue IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber dürfte in seiner ersten Lohnrunde als Chef kaum hinter den Abschlüssen anderer Gewerkschaften zurückstehen wollen.
Im übrigen Euro-Raum sieht es nicht besser aus. So listet die EZB in ihrem jüngste Monatsbericht minutiös auf, in wie vielen Ländern noch immer ein Großteil der Löhne indexiert ist, also automatisch an die Inflationsraten angepasst wird. „Diese Systeme bergen das Risiko“, warnen die Währungshüter, „dass aufwärtsgerichtete Preisschocks von längerer Dauer sind und zu einer Lohn-Preis-Spirale führen.“
All das weckt Erinnerungen an die Siebzigerjahre. Auch damals explodierte der Ölpreis, weltweit wurde alles teurer. Auch damals setzten Gewerkschafter kräftige Lohnerhöhungen durch – wie der legendäre ÖTV-Vorsitzende Heinz Kluncker, der 1974 elf Prozent für den öffentlichen Dienst durchboxte. Auch damals wurde die Inflationsspirale von Währungshütern leichtfertig mit Geld zum Drehen gebracht. Auch damals kam gleichzeitig das Wachstum zum Halten.
Und damals wie heute überbieten sich die Politiker mit Vorschlägen, wie dem inflationsgepeinigten Bürger zu helfen sei. Wegen des explodierenden Benzinpreises plädierte Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) kürzlich für eine Rückkehr zur alten Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer, um Berufspendlern unter die Arme zu greifen; Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) forderte eine eigene Pendlerpauschale für Geringverdiener. All das ist ziemlich heuchlerisch, ist doch der Staat mit seinen Verbrauchsteuern und Gebühren selbst einer der größten Preistreiber.
Auch in anderen Ländern versuchen Politiker aus der Situation Kapital zu schlagen: So will Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy die Mehrwertsteuer für Mineralölprodukte kappen, um den Preisanstieg zu dämpfen. Und Sarkozy ist es auch, der mit schöner Regelmäßigkeit die EZB auffordert, neben der Inflation auch das Wachstum stärker im Blick zu behalten.
Dabei ist die wichtigste Lehre aus den Siebzigerjahren, dass die EZB mit ihrem harten geldpolitischen Kurs richtig liegt. Gelingt es ihr, die Inflation einzudämmen, stützt das den Konsum – und hilft auch der Konjunktur. So gesehen, existiert ihr viel zitiertes Dilemma gar nicht, wonach höhere Zinsen das Wachstum belasten, Zinssenkungen aber die Inflation zusätzlich befeuern. Andreas Scheuerle, Ökonom bei der DekaBank, bringt es auf den Punkt: „Die Bekämpfung der Inflation ist zurzeit die beste Konjunkturpolitik.“
Viele Experten sind dennoch skeptisch, ob es gelingt, eine Stagflation wie in den Siebzigern zu vermeiden. So rechnet Morgan-Stanley-Ökonom Fels zwar nicht mit zweistelligen Inflationsraten, wie es sie damals in Amerika und in vielen europäischen Ländern gab. Aber er sagt den Industrieländern eine „lange Periode relativer Stagnation und hoher Inflation“ voraus.
Quelle: http://www.wiwo.de