So will der Staat seine Schulden abwälzen
Von Daniel Eckert Und Holger Zschäpitz
Die explodierende Verschuldung stellt die Staaten vor schier unlösbare Probleme. Höhere Steuern allein reichen nicht aus. Ohne neues Wirtschaftswunder hilft nur noch Inflation. So oder so müssen Sparer für die teuren Rettungspakete aufkommen
Von der Bibel hätten Peer Steinbrück und seine Finanzminister-Kollegen lernen können, wie sie die Staatskasse vorausschauend führen. Ihr alttestamentarischer Vorläufer Josef riet dem Pharao, die fetten Jahre zu nutzen, um Vorräte für schlechte Zeiten anzulegen. Der Herr über Ägypten folgte dem Rat, und als die mageren Jahre kamen, war genug Getreide vorhanden, dass niemand zu hungern brauchte.
Dummerweise haben die heutigen Josefs die fetten Jahre verstreichen lassen und stehen nun in den mageren Jahren mit leeren Speichern da. Die mageren Jahre - das sind die Finanzkrise und die globale Rezession. Um die Wirtschaft und das Bankwesen am Laufen zu halten, können sie nicht auf Erspartes zurückgreifen. Im Gegenteil: Die bereits vorhandene Verschuldung der Staaten muss in der Krise dramatisch ausgeweitet werden.
Biblisch könnten auch die Konsequenzen sein, die die Steuerzahler und Sparer deswegen in Zukunft heimsuchen. Denn der Schuldenberg droht solche Ausmaße anzunehmen, dass nur noch eine radikale Lösung des Problems infrage kommt: Entweder folgt auf die größte Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg die größte Steuererhöhung. Oder der alte Dämon Inflation wird zur Linderung der staatlichen Schuldenlasten heraufbeschworen und raubt den Menschen dann schleichend ihr Erspartes. Das extreme Szenario ist eine Staatspleite, wie sie die entwickelten Ökonomien seit sechs Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben.
Schon jetzt sind die Vorbeben an den Kapitalmärkten zu spüren. In Reaktion auf das gestiegene Bonitätsrisiko verlangen die Akteure deutlich höhere Zinsen. Die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihe kletterte zuletzt auf 3,7 Prozent und damit den höchsten Stand seit sieben Monaten. Noch eklatanter fiel der Zinsanstieg in den Vereinigten Staaten aus: Bei Treasuries verdoppelte sich die Rendite nahezu: Hatten zehnjährige US-Bonds Ende 2008 noch bei zwei Prozent rentiert, so müssen sie mittlerweile fast 3,8 Prozent bieten, um noch Käufer zu finden.
Wie groß das Misstrauen gegenüber dem System geworden ist, lässt sich auch am Wertverfall des Dollar ablesen, gilt dieser doch als Schuldenwährung Nummer eins. Allein seit März hat die US-Devise gegenüber dem Euro rund 13 Prozent an Wert verloren. Die einzige Währung, die noch das uneingeschränkte Vertrauen der Marktteilnehmer zu genießen scheint, ist Gold. Das Edelmetall, welches anders als Papiergeld von Notenbankern nicht beliebig vermehrt werden kann, dient vielen als Zuflucht. Innerhalb eines halben Jahres hat es sich um 40 Prozent verteuert.
Josef hätte der Zustand der heutigen Staatsfinanzen vermutlich zutiefst beunruhigt: In der Bundesrepublik wird die Kombination von Konjunkturprogrammen und Steuerausfällen 2009 eine Neuverschuldung von 90 Milliarden Euro nach sich ziehen, wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) schätzt. Im kommenden Jahr könnten noch einmal 135 Milliarden Euro an neuen Verbindlichkeiten dazukommen. Damit schnellt die Schuldenquote, die die Außenstände ins Verhältnis zur Wirtschaftskraft setzt, von derzeit 66 Prozent auf weit über 70 Prozent nach oben.
"Wie hoch die Defizite tatsächlich ausfallen werden, hängt von den Bürgschaften und den weiteren Aktionen der Regierung ab", sagt DIW-Chef Klaus Zimmermann.
Dabei steht Deutschland im Vergleich mit anderen Nationen fast noch solide da. In den USA dürfte die Schuldenlast schon 2010 genauso hoch sein wie die Wirtschaftsleistung. Im Jahr 2020 könnte es laut Prognose schon ein Drittel mehr sein (siehe Grafik). Am schlimmsten steht es um Japan: Aus seiner verlorenen Dekade, in der es erfolglos mit Stimulusprogrammen die Stagnation zu überwinden trachtete, schob es einen gewaltigen Schuldenberg vor sich her, als die Finanzkrise ausbrach. Der ehemalige Kraftprotz im Osten zeigt die negative Dynamik, die eine Defizitpolitik entfalten kann: Mitte der 90er-Jahre wurde bereits die kritische Quote von 100 Prozent überschritten, nur 13 Jahre später liegen die Verbindlichkeiten bei 200 Prozent der Wirtschaftsleistung.
Das Beispiel Japan zeigt auch, dass das Idealszenario der Politik - sich durch starkes Wachstum aus dem Schuldenschlamassel zu befreien - kaum mehr ist als ein frommer Wunsch. Schon in den vergangenen 20 Jahren hat dies nicht funktioniert, und mittlerweile würden sogar drei Prozent Wachstum nicht reichen, um auch nur einen Yen von dem Schuldenberg abzutragen.
Die alternde Industrienation, die sich nie vom Platzen der Immobilienblase 1990 erholte, mag ein Extremfall sein, doch die Probleme sind überall in der industrialisierten Welt dieselben. Die Frage - die sich auch Anleger mehr und mehr stellen - ist, ob die Staaten überhaupt jemals wieder auf einen grünen Zweig kommen. "Eine Rückführung der Schulden erscheint politisch und fiskalisch vollkommen unmöglich", sagt Erwin Grandinger, Analyst bei der EPM Financial Services Group in Berlin.
Vor dem naheliegenden Ansatz, die Ausgaben drastisch zu kürzen, werden die Regierenden in einem Sozialstaat zurückschrecken: Denn spätestens bei der nächsten Wahl droht sie der Volkszorn einzuholen. Erschwerend kommt hinzu, dass ein Etatposten so oder so weiter wächst: der Schuldendienst. Schon jetzt bilden die Zinszahlungen hierzulande hinter Sozialem und weit vor Verteidigung den zweitgrößten Ausgabenblock. Dieses Jahr müssen die Bundesbürger laut Finanzagentur, die die deutschen Staatsschulden verwaltet, mehr als 40 Milliarden Euro an Zinsen aufwenden, pro Einwohner fast 500 Euro.
Dennoch sind die Deutschen mit den 40 Milliarden gut bedient, konnte der Staat doch bisher auf historisch günstige Konditionen zurückgreifen. Das wird nicht so bleiben: Einer groben Annäherung zufolge würde ein Zinsanstieg um einen Prozentpunkt die Finanzierungskosten um 15 Milliarden Euro im Jahr verteuern.
Also doch Steuererhöhungen? Mit Kleckerbeträgen ist es nicht getan. DIW-Chef Zimmermann sieht eine kräftige Anhebung der Mehrwertsteuer auf 25 Prozent als einzig gangbaren Weg. "Diese Steuer belastet nicht den Export und nicht die Ersparnisse, sondern nur den Verbrauch", sagt der Ökonom.
Allerdings wird kaum eine Partei mit dem Slogan "25 Prozent auf alles!" in den Wahlkampf ziehen wollen. Beobachter glauben ohnehin, dass die Politiker insgeheim eine andere Strategie haben. "Das Kalkül ist, sich der Schulden im Laufe der Jahre über eine mehr oder minder verkappte Inflation zu entledigen", sagt Grandinger. Das Prinzip ist einfach und hat in der Geschichte schon oft funktioniert: Mit steigenden Preisen nehmen die Staatseinnahmen überproportional zu, während die Schulden nominal, also vom Nennwert gesehen, gleich bleiben. Wegen der Steuerprogression rutschen zum Beispiel immer mehr Bürger in eine höhere Steuerklasse und müssen nun einen höheren Prozentsatz ihres Einkommens an den Fiskus abtreten.
Dadurch fällt es dem Schuldner leichter, die Zinsen zu bedienen: Selbst bei einer moderaten Inflationsrate von drei Prozent vermindert sich der "reale" Wert der Schulden in zehn Jahren um ein Viertel, bei einer Teuerung von vier Prozent um ein Drittel. Der Staat profitiert in der Theorie selbst dann noch von einer maßvollen Geldentwertung, wenn die Zinsen auf seine Anleihen nach oben gehen.
"Die Industriestaaten haben praktisch keine Chance, ohne Inflation aus der Schuldenspirale herauszukommen", sagt Véronique Riches-Flores, Strategin bei der französischen Großbank Société Générale in Paris. Ohne dieses Wundermittel müssten die Staaten bis zu acht Prozent ihrer Wirtschaftsleistung aufwenden, um auf die Schuldenquote von 60 Prozent zurückzukommen, wie sie im Maastricht-Vertrag für die Mitglieder der Euro-Zone als Obergrenze festgeschrieben ist: "Eine unrealistische Annahme", findet Riches-Flores.
Für Anleger liefe diese Sanierung der Staaten durch Inflation allerdings auf einen Kapitalschnitt hinaus: "Eine steigende Teuerung wird für Besitzer von Regierungsanleihen eine Art Enteignung durch die Hintertür sein", sagt Stephen King, Chefvolkswirt bei der britischen Großbank HSBC. Im Endeffekt hätte das die gleiche Wirkung wie ein Staatsbankrott - nur eben weniger spektakulär.
Was bleibt, ist die Hoffnung auf ein neues Wirtschaftswunder, das Probleme löst.
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Quelle: » http://www.welt.de