Als die Börse zurückschlug
Am 19. Oktober 1987 stürzten die US-Märkte ins Nichts. Der größte Kursrutsch innerhalb eines Tages beendete die Exzesse und die Naivität der achtziger Jahre. Eine Prophezeiung wurde wahr. Gibt es heute ähnliche Menetekel? Von Marc Pitzke, New York
NewYork - Paul Tudor Jones II. hat eine Vorahnung. "Zweifellos wird es eine Talfahrt geben", sagt der fesche Fondsmanager und Jungmillionär. "Und sie wird welterschütternd sein, säbelrasselnd." Ein halsbrecherischer "Sturz vom Acapulco-Kliff", der sich in den "nächsten 10, 20 Monaten" ereignen werde.
Es ist November 1986. Die US-Börse schwelgt im Höhenrausch. Der Bullenmarkt macht seinem Namen alle Ehre, "Fusionsmanie" ist das Wort der Stunde. Jones, gerade mal 32 Jahre alt, ist einer der wenigen Spielverderber. Seine Unkenrufe, verewigt ein Jahr später in einer TV-Dokumentation, ernten nur Spott.
Kurz darauf, am 19. Oktober 1987, wird Tudors Prophezeiung wahr. "Black Monday": Die US-Märkte stürzen ins Nichts, der Rest der Welt folgt. Es ist einer der größten, folgenschwersten Börsencrashs aller Zeiten. Im Dow-Jones-Index werden über 500 Milliarden Dollar ausradiert.
20 Jahre später schaut die Wall Street mit nostalgischem Schaudern zurück. Es war, als habe die Börse zurückgeschlagen: Der schwarze Montag beendete die Exzesse der Achtziger, als furcht- und skrupellose Männer wie Tudor - die "Masters of the Universe" - irrsinnige Vermögen machten. "Gier ist gut" war ihr Motto - das Leitmotiv einer Ära, der Tom Wolfes Schlüsselroman "Fegefeuer der Eitelkeiten" und der Kinothriller "Wall Street" noch im selben Jahr ein Denkmal setzten.
Unbeachtete Warnzeichen
Was die Frage nahelegt: Kann sich so etwas wiederholen? Ist der momentane Börsenboom, samt seiner kürzlichen Schreckminuten, heute ein ähnliches Fegefeuer der Eitelkeiten, in dem die Dotcom-Fantasten, Hedgefonds-Haie und Private-Equity-Kings verbrennen werden?
Im Nachhinein sieht jeder die Menetekel, vor allem die von 1987. Die Jahre vor dem Crash waren Jubeljahre für die Börsianer. Seit 1982 trampelten die Bullen durch die Wall Street. Konzerne vernichteten sich gegenseitig per feindlicher Übernahme, meist auf Pump via Junk-Bonds (Ramsch-Anleihen) und ermutigt durch Washingtons Steuerpolitik. Investoren stürzten sich euphorisch auf jeden neuen Börsengang, in der Hoffnung auf eine Wiederholung der ersten IPO-Sensation aus dem Silicon Valley - Apple, dessen Börsengang 1980 über Nacht Hunderte zu Millionären gemacht hatte.
Nur wenige sorgten sich darum, dass die Gewinne mit den Preisen nicht mithielten, dass sich die Schere zwischen Kurs und Bilanz immer bedrohlicher vergrößerte. Angefacht wurde der Aktien-Hype von neuen, doch noch primitiven elektronischen Handelssystemen an den Börsen, die es erlaubten, viel schneller und viel mehr auf einmal zu handeln als bisher.
In der Woche vor dem Crash mehrten sich die unbeachteten Warnzeichen. Washington schickte sich an, Steuervorteile für Firmenfusionen abzuschaffen - prompt verloren Übernahmekandidaten an Börsen-Attraktivität, ihre Kurse gingen nach unten. Auch entpuppte sich das Handelsdefizit für August als unerwartet hoch - der Dollar sank, mit ihm weitere Kurse. Investoren flohen in Futures. Alle Indizes schlossen die Woche dunkelrot ab.
Kurse per Hand berechnet
"Es gab ein enormes Gefühl der Vorahnung", erinnert sich Joe Nocera, Wirtschaftskolumnist der "New York Times" und damals ein junger Reporter. Nocera erlebte den "Black Monday" im Bostoner Büro des Investmentkonzerns Fidelity. "Das ganze Wochenende über hatte die Fidelity-Telefonzentrale die Anrufe panischer Investoren entgegengenommen."
Jan Hopkins, ihrerzeit Wirtschaftsreporterin für CNN, kam am Montag extra früh zur Arbeit, "für den Fall, dass es noch schlimmer würde". Da Journalisten auf dem Börsenparkett nicht erlaubt waren, baute sich Hopkins auf dem Balkon auf. Mangels Computer musste sie die Kurse per Hand berechnen. Eine ihrer stärksten Erinnerungen, so schrieb sie diese Woche in einem Essay fürs Wirtschaftsmagazin "Barron's": "Die Papiertüten mit den unverzehrten Lunch-Rationen der Händler."
Denn zum Essen blieb bald keine Zeit mehr. Der Markt trudelte von der ersten Minute an, ohne Aufhalten, wie ein Flugzeug im Sturzflug.
Schon bei Börsenbeginn gab es so viele "Sell"-Order, dass das System schnell überlastet war. Es kam zum Stau. Ein Drittel der Kurse öffnete verspätet. Notenbankchef Alan Greenspan, gerade mal einen Monat im Amt, dachte laut über "eine vorübergehende, sehr vorübergehende Handelsunterbrechung" nach. Das fachte die Panik nur noch weiter an.
"Wie ein Fellini-Film"
"Wir hatten unsere Leute immer trainiert, Krisen zu bewältigen", erinnert sich der damalige NYSE-Chef John Phelan, der eine überwältigte Aktie nach der anderen aus dem Verkehr ziehen musste. "Aber das hatte ich nicht vorhergesehen." Auch Leo Melamed, der die Chicago Mercantile Exchange leitete, gibt zu: "Ich war verrückt vor Angst." Jeder Mensch, sagt Melamed in einem Special des Wirtschaftssenders CNBC, habe eine private Schreckensvision, ob Schlangen oder Ratten. "Für mich, das war diese Schreckensvision."
"Wie ein Fellini-Film", schrieb der berühmte Investmentberater John Spooner später. "Nur, dass ich mit in dem Film war." Selbst Notenbank-Orakel Greenspan wurde kalt erwischt. "Der Crash war weit größer, als wir das auch nur im entferntesten erwartet hatten", sagt er. "Uns wurde der Boden unter den Füßen weggezogen." An jenem Tag habe ihn James Baker angerufen, der Stabschef im Weißen Haus. Bakers erstes Wort: "Help!"
Am Ende des Tages verzeichnete die New York Stock Exchange (NYSE) den größten Kurssturz ihrer Geschichte. Der Dow Jones verlor mit 508,32 Punkten fast 23 Prozent - heute wären das über 3000 Punkte. Auch die anderen Indizes brachen ein. Zum Vergleich: Der historische Crash von 1929, der die Depression auslöste, betrug "nur" 100 Punkte (13,5 Prozent).
Die Panik beschränkte sich nicht auf New York. Weltweit gerieten die Börsen in den Sog. In Boston versammelten sich so viele Investoren vor dem Fidelity-Gebäude, dass der Verkehr zusammenbrach. "Keiner sprach miteinander", berichtet Nocera. "Wir guckten einfach nur aus dem Fenster. Ich fühlte mich wie gelähmt."
Luftleere Sphären
Der folgende Tag - "Terrible Tuesday" - war noch furchterregender, nachdem auch die anderen Weltbörsen abgeschmiert waren. Anfangs setzte sich die Talfahrt in New York fort. Nach schwindelerregenden Kapriolen schloss der Dow Jones schließlich aber im Plus ab. Ein erschöpftes Aufatmen ging nicht nur durch die Wall Street. Die internationale Finanzkatastrophe schien abgewendet.
Doch die Zeit der Naivität war vorbei. Wochenlang herrschte Pessimismus. Viele prognostizierten für 1988 eine Rezession.
Doch schon im Frühjahr 1989, also rund 18 Monate später, war der Dow wieder auf neuen Höhen. Der Black Monday hatte ihm den größten Tagesverlust der Neuzeit beschert. Aus der Langfristperspektive war er aber nur ein sehr kurzfristiger Rücksetzer im Aufwärtstrend des Dow Jones.
Die Hauptlehre aus dem Crash von 1987: Kurse steigen so lange, bis sie in luftleere Sphären stoßen und sich dann automatisch nach unten korrigieren - mitunter brutal. Investoren, die das durchhalten, überleben.
Die NYSE und andere Börsen führten im Jahr nach der Katastrophe "Circuit Breakers" ein - automatische Handelsstopps, wenn ein Kurs zu schnell abstürzt (oder ansteigt). Schon oft haben diese Notbremsen seither verhindert, dass zu ähnlichen Computer-Panikverkäufen kam wie 1987. Mittlerweile kann die NYSE 38.000 Transaktionen pro Sekunde verkraften, bis zum Jahresende soll die Kapazität auf 64.000 erhöht werden. Verbessert wurden auch die Kommunikationsstränge zwischen den einzelnen Märkten und der Börsenaufsicht SEC.
Vom reuigen Milliardär zum Wohltäter
Eine Wiederholung von 1987 schließen die meisten Experten heute aus. "Ich glaube nicht, dass der Markt noch einmal in einem Tag um 22,6 Prozent fallen kann", sagt Byron Wien, der Chefstratege der Investmentfirma Pequot. "Es gibt heute zu viel Liquidität und zu viele Käufer für eine solche Kettenreaktion."
Paul Tudor Jones II., der Mann mit der Vorahnung, hat seinen damaligen Instinkt gut vermarkten können. Seine Fonds managen heute fast 18 Milliarden Dollar; "Forbes" schätzt sein Privatvermögen auf 3,3 Milliarden Dollar. Bei allem hat Tudor reuig den guten Menschen in sich selbst entdeckt: Er ist der Gründer der Robin Hood Foundation, die Armut und Elend in New York City bekämpft.
Das Originalvideo der damaligen TV-Dokumentation "Trader" - die ihn als arroganten Wall-Street-Tausendsassa zeigt - hat er längst aus dem Verkehr ziehen lassen.
Ein Verlust von 22,6 Prozent an einem Tag
19. Oktober 2007
Als die New Yorker Börse vor zwanzig Jahren ihren schwärzesten Tag erlebte, saß Alan Greenspan im Flugzeug von Washington nach Dallas. Nach der Landung fragte der frischgebackene Chef der amerikanischen Notenbank Fed sein Empfangskomitee als Erstes nach dem Schlussstand beim Dow-Jones-Index. Im Flugzeug hatte es kein Telefon gegeben. Die Börsenkurse waren bereits stark gefallen, als Greenspan losgeflogen war, und er machte sich Sorgen.
„Er ist Fünf-Null-Acht runter“, antworteten die Vertreter der Federal Reserve von Dallas, die Greenspan abholten. Das beruhigte den Notenbanker kurz, wie er in seinen Memoiren schreibt. Er dachte nämlich, dass „Fünf-Null-Acht“ 5,08 Punkte bedeutete, und so freute er sich über die vermeintliche Erholung. Aber auf den Gesichtern seiner Kollegen war keine Erleichterung zu erkennen.
Immer wieder im Oktober
Mit der Kurzformel „Fünf-Null-Acht“ wollten die Notenbanker aus Dallas Greenspan bedeuten, dass der Dow Jones um 508 Punkte eingebrochen war - dies war ein Verlust von 22,6 Prozent an einem einzigen Tag. Während der kurzen Zeit, in der Greenspan im Flugzeug saß, verpuffte also fast ein Viertel des amerikanischen Börsenkapitals.
Es war der zweitgrößte prozentuale Tagesverlust in der Geschichte des Dow Jones. Nur im Dezember 1914 war der Index einmal stärker gefallen. Zum Vergleich: Der Leitindex der amerikanischen Aktienmärkte, der aktuell um 14.000 Punkte pendelt, müsste jetzt an einem Tag um mehr als 3.150 Punkte stürzen, um den Rekord von damals einzustellen.
Am heutigen Freitag jährt sich der Tag dieses Börsenkrachs, der 19. Oktober 1987, zum zwanzigsten Mal. Der „schwarze Montag“ von 1987 trug auch mit dazu bei, dem Börsenmonat Oktober die Reputation eines für starke Kursverluste anfälligen Zeitraums zu geben. Auch der Börsenkrach von 1929, der die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre einleitete, hatte im Monat Oktober stattgefunden. Damals waren die Aktienkurse an zwei Tagen um insgesamt 23 Prozent gefallen. Auch an einem Oktobertag vor zehn Jahren hatten die Kurse der amerikanischen Börsen um mehr als 7 Prozent nachgegeben.
Parallelen und Unterschiede
Das runde Jubiläum eines nervenaufreibenden Börsenkrachs ist für Börsianer immer ein Grund, die aktuelle Lage zu prüfen. Parallelen gibt es genug. Heute wie damals befand sich der Dow Jones auf einem Rekordniveau. Der Kurs des amerikanischen Dollar stand damals ebenfalls unter Druck, und die Vereinigten Staaten sorgten sich wegen ihres großen Außenhandelsdefizits und wegen des wachsenden Einflusses großer asiatischer Exportnationen. Damals war Japan der Angstgegner, heute ist es China. In beiden Jahren machten Beteiligungsgesellschaften wie Kohlberg Kravis Roberts mit großen Übernahmen börsennotierter Unternehmen Schlagzeilen. Und in beiden Jahren gab es Verwerfungen im Kreditmarkt.
Allerdings bestehen auch große Unterschiede - weswegen sich Börsianer an den amerikanischen Aktienmärkten keine großen Sorgen machen, dass es diesen Oktober zu einem neuerlichen Einbruch kommt. Vor zwanzig Jahren waren die Kurse zuvor viel steiler gestiegen als heute. Allein 1987 hatte der Dow Jones zeitweilig um mehr als 40 Prozent zugelegt. Im laufenden Jahr lag der Dow, als er am 11. Oktober das Rekordhoch von 14.198 Punkten erreichte, mit vergleichsweise bescheidenen 14 Prozent im Plus. Zudem sind Aktien im Vergleich zu den erwirtschafteten Gewinnen der Unternehmen günstiger bewertet als vor zwanzig Jahren.
Ein großer Unterschied besteht auch in der Position der Fed. Greenspan hatte die Geldpolitik erst nach dem schwarzen Montag gelockert. Sein Nachfolger Ben Bernanke hat die Leitzinsen in diesem Jahr während der Vertrauenskrise am Kreditmarkt rasch gesenkt. Das hatte nach den Börsenturbulenzen im Sommer für eine rasche Erholung der Aktienkurse gesorgt.
Der 19. Oktober 1987 hat die Hausse nur kurz unterbrochen. Seitdem hat sich der Dow Jones versiebenfacht. Das verklärt die heutige Wahrnehmung dieses brutalen Kurseinbruchs und lässt die Panik von damals vergessen. „Blickt man zurück auf 1987, war der Tag nach dem Börsenkrach die beste Kaufgelegenheit aller Zeiten“, resümiert Ann Sonders, die Chef-Anlagestrategin beim Wertpapierhandelshaus Charles Schwab.